Nachruf auf einen Freund

Auf William Wolff traf ich im Frühjahr 2009 während der Arbeit an einer Fotoreportage in Schwerin. Er lief zufällig an mir vorbei, durchkreuzte meinen Weg, drehte sich noch einmal um und lächelte. Dieses Lächeln, seine Ausstrahlung, seine Art, waren besonders. Für mich als Fotografin war sein Gesicht ein tiefgründiges Faszinosum. Da wir uns nicht kannten, recherchierte ich, wer dieser Fremde war und setzte mich dann mit dem heutigen Judentum, den Synagogen und Rabbinern auseinander.  Später ließ William Wolff sich auf ein Treffen mit mir ein, auf ein Shooting für eine Reportage, auf Gespräche und auf weitere Treffen. Eine besondere Beziehung entstand aus diesem Beisammensein. Wir reisten dann viele Jahre zu zahlreichen besonderen jüdischen Orten in Europa und nach Israel, und ich durfte ihn mit meiner Kamera begleiten.  Ich sammelte über 10 Jahre fotografische Momente, Portraits und Texte, Zitate, Monatsbriefe, Predigten und „Weisheiten“. Ich ahnte damals eine ganz besondere Geschichte hinter dem Menschen William Wolff, die sich nichtallein auf das Judentum beschränkte. Es wurde tatsächlich eine Reise weit in die Wunderwelt der menschlichen Existenz hinein. Willy Wolff erzählte über Gott, wo man ihn suchen und finden könne, über die Schönheit Gottes, über Hoffnung, Zuversicht, über Optimismus und das immer mit ganz viel Lebensfreude. Er zeigte mir, wie menschliche Würde funktioniert, egal ob man „Säugling ist oder Greis“.

Einmal kam eine hohe Delegation nach Schwerin, eine Menge bekannte Personen des öffentlichen Lebens trafen sich in seinem Büro, um wichtige Dinge zu besprechen. Die halbe Straße wurde abgesperrt, ein entsprechendes Polizeiaufgebot sicherte die Häuser und Bodyguards mit Funkgeräten standen in den Fluren herum. Willy Wolff hielt sich nicht in seinem Büro auf, obwohl er eine der Hauptpersonen des Treffens war, er unterhielt sich  mit diesen Personenschützern im dunklen Flur, weil sich sonst ja niemand um sie kümmerte oder sie überhaupt beachtete, man vergaß sie sozusagen im Getümmel und Wirrwarr dieses Ereignisses. Er selbst kochte Kaffee und brachte ihnen die Tassen. Die Veranstaltung im Büro verlief fast komplett ohne Rabbiner Wolff. 

An eine andere Begegnung erinnere ich mich im Sommer 2010 im Bus von Auschwitz nach Auschwitz-Birkenau. Es war sehr heiß, der Bus war übervoll mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten. Die Stimmung dort war sehr schwierig, schwermütig, traurig, erschütternd und schien zum Teil ohnmächtig. Rabbi Wolff stand in der Mitte des überfüllten Busses und hielt sich während der Fahrt an einem Griff fest. Er war mit Abstand der älteste Mensch in diesem Bus und womöglich auch der einzige Rabbiner. Man sah das. Verschiedene Menschen sprachen ihn an, boten ihm ihren Sitzplatz an, trotz der Trauer im Bus und der Hitze antwortete er in vier verschiedenen Sprachen zu den Menschen, dass er lieber stehe. Er sehe vielleicht alt aus, aber seine Beine seien jung! Und er gab den Menschen mit seiner Art zu reden Mut und Zuversicht, ich würde sagen, sogar Kraft, diesen Weg weiterzugehen, sowie: “Auch das schaffen wir, wir sind nicht allein, wir sind mehr als Trauer und Hoffnungslosigkeit.“ Seine Art, seine spürbare tatsächliche Anwesenheit, seine ausgesprochen fühlbare Güte und Liebe waren hier stärker als jede aufkommende Ohnmacht.

Als wir zwei im September 2009 in Ravensbrück vor dem ehemaligen Konzentrationslager standen, sahen wir auch den Park direkt daneben. Der Regen verschwand, die Sonne kam heraus und zeigte die ganze Schönheit dieses Parks. Er stand lange da, sah das und sagte nach langer Pause: „Was für ein wunderschöner Ort.“

Unsere Familie, mein Mann Udo, Irina von der Jüdischen Gemeinde und ich, wir kochten oft für ihn. Wenn ich ihn abholte zu uns nach Hause, dann fragte er mich zunächst, wie es mir ginge. Ich antwortete: “Ach… ich bin zufrieden.“. Er sah mich an, überlegte und meinte: “Das ist gut. Denn ich glaube, Zufriedenheit ist viel mehr wert als Glück. Weil, Glück geht schnell vorbei, die Zufriedenheit aber bleibt , da hat man länger was von. Kommen Sie Manuella, jetzt gehen wir schön essen.“

Einer seiner Briefe trug die Überschrift: “Guten Tag gute Welt“! Er hängt jetzt bei mir an der Wand. So kann vielleicht ein schlechter Tag doch gut werden, wenn ich das lese, glaube ich. Er spricht über das menschliche Schicksal und unsere Einstellung dazu, darüber, dass wir allein die Macht haben, es anzunehmen und uns trotz aller Fährnisse für die Zufriedenheit zu entscheiden. Wir selbst treffen die Entscheidung, zufrieden oder unzufrieden zu sein. Er zeigte mir, dass die Welt besser ist, als ich dachte, dass das Gute das Schlechte überragt. Und ich hatte in seiner Gegenwart tatsächlich das Gefühl, dass es stimmt! Und dass wir uns mit dieser Güte tatsächlich freuen können. Er liebte das Leben und die Menschen, das spürte man an seiner Seite. Seine Sprache und seine Wärme verstanden auch Menschen, die nicht religiös waren und manchmal auch die, die gar nicht unsere Sprache verstanden, sondern einfach nur fühlten und erahnten, wie ich es damals tat. 

An meiner Wand hängt auch sein handschriftliches Zitat: “Die Welt ist nicht perfekt.“ Ja. Aber daneben steht: „Gott sei Dank! Die Sache mit Gott.“ Wir können nicht alles erklären, nicht alles verstehen, aber wir können unser Schicksal annehmen und mit Optimismus und einem Lächeln weitergehen. So komme ich an manch schlechten Tagen besser zurecht, denn er hat uns, mir, mit seinem Optimismus, mit seiner Freude, seiner Zuversicht und seiner Freundschaft, mehr hinterlassen als er durch seinen Tod mitgenommen hat.

Willy Wolff wurde ein Freund und ein Teil unserer Familie. Wenn er auf unserer „warmen“ Couch im Wohnzimmer saß, dann erinnerte ihn das an seine Kindheit und an sein Elternhaus in Berlin. So sagte er.

Manuela Koska, Pinnow, September 2020